Tout est pardonné - Alles ist vergeben
Predigt am 18. Januar 2015 in der Ev. Christuskirche
Alles ist vergeben. Das ist Erlösung. Alle Schuld, die sich angehäuft hat, wird genommen und aufgehoben. Alles, was Menschen einander Schlimmes angetan und alles, was Menschen erlitten haben, soll weg und vergessen sein. Kein Schuldgefühl mehr und kein bitteres Gefühl mehr von Geringschätzung. Wie schön - aber kaum vorstellbar.
„Tout est pardonné“ - Alles ist vergeben. So steht es in diesen Tagen auf dem Titelblatt der Zeitschrift „Charlie Hebdo“. Ich weiß nicht, was die Macher damit sagen wollten. Jeder legt nun seine Gedanken hinein. Der Satz jedenfalls provoziert mich, heute mit euch über die Vergebung nachzudenken in Zeiten, die aufgeladen sind von gewaltsamer Gesinnung und Gemütslage und auch von Solidaritätskundgebungen.
Alles ist vergeben.
HERR, HERR, Gott, barmherzig und gnädig und geduldig und von großer Güte und Treue, der da Tausenden Gnade bewahrt und vergibt Missetat, Übertretung und Sünde, aber ungestraft lässt er niemand, sondern sucht die Missetat der Väter heim an Kindern und Kindeskindern bis ins dritte und vierte Glied.
(2. Mose 34, 6-7)
Lobe den HERRN, meine Seele und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat; der dir alle deine Sünde vergibt und heilet alle deine Gebrechen, der dein Leben vom Verderben erlöst, der dich krönet mit Gnade und Barmherzigkeit... Barmherzig und gnädig ist der HERR, geduldig und von großer Güte. Er handelt nicht mit uns nach unseren Sünden und vergilt uns nicht nach unserer Missetat. Denn so hoch der Himmel über der Erde ist, lässt er seine Gnade walten über denen, die ihn fürchten. So fern der Morgen ist vom Abend, lässt er unsere Übertretungen von uns sein. Wie sich ein Vater über Kinder erbarmt, so erbarmt sich der HERR über denen, die ihn fürchten. (Psalm 103, 3-11)
Darin ist erschienen die Liebe Gottes unter uns, dass Gott seinen eingeborenen Sohn gesandt hat in die Welt, damit wir durch ihn leben sollen. Darin besteht die Liebe: nicht, dass wir Gott geliebt haben, sondern dass er uns geliebt hat und gesandt seinen Sohn zur Versöhnung für unsere Sünden. (1. Joh. 4, 9-11)
Und Jesus nahm den Kelch und dankte, gab ihnen den und sprach: Trinket alle daraus, das ist mein Blut des Bundes, das vergossen wird für viele zur Vergebung der Sünden. (Mt 26, 27)
Segnet, die euch verfolgen, segnet und flucht nicht. Vergeltet niemand Böses mit Bösem. Ist möglich, soviel an Euch liegt, so habt mit allen Menschen Frieden. Lass dich nicht vom Bösen überwinden sondern überwinde das Böse mit Gutem.
(Röm 12,14.17.18.21)
Wenn ihr nur liebt, die euch lieben, was werdet ihr für Lohn haben? Tun dasselbe nicht auch die Zöllner? (Mt 5,46)
Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen! Und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden sein Volk sein, und er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein. Und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen. Und der auf dem Thron saß, sprach: Siehe ich mache alles neu! (Offenbarung 21, 3-5)
Alles ist vergeben.
In der kommenden Woche soll das Buch von Mohammedou Ould Slahi veröffentlicht werden. Er ist seit 2002 im Gefangenenlager Guantanamo inhaftiert. Richard Patrick Zuley, ehemaliger Polizist in Chicago, war in Guantanamo Leiter eines Verhör-Teams und für Slahi zuständig. Donald Rumsfeld, Chef im Pentagon, verfügte persönlich, dass Slahi alles preisgeben müsse. Und dann wurde er gefoltert: 20-stündige Verhöre, bellende Hunde, Demütigung, Verbot zu beten, Überbelastung mit Licht und Lärm, nackt in einer eiskalten Zelle ausharren, Schläge ins Gesicht und auf die Rippen, auf dem Meer Salzwasser bis zum Erbrechen trinken, die Drohung, auch seine geliebte Mutter in Guantanamo einzusperren. Mohammedou Ould Slahi soll in der Nähe von Osama bin Laden gewesen sein. Eine Gewalttat kann man ihm nicht nachweisen.
Slahi, mittlerweile 44 Jahre alt, hat seine Geschichte aufgeschrieben. Es ist eine Dokumentation und eine Anklage. Slahi ist darin das Opfer, aber am Ende ist er anscheinend stärker als seine Folterer. Seine Erinnerungen handeln von Sicherheitsapparaten, die 2001 jede Beherrschung verloren haben und jeden Anstand. Er ist ein Mann, den Einsamkeit, Demütigung und Folter nicht gebrochen haben. Er hat seinen Peinigern zwar nachgegeben, aber er hat sie auch entlarvt als die eigentlich Lächerlichen und Verzweifelten. Von der Schuld des Folterns ist kein Freispruch möglich und dennoch können manche Opfer ihren Peinigern vergeben: „Niemand verdient es, für so einen schmutzigen Job benutzt zu werden.“ Seine Erlebnisse auf Guantanamo hätten ihn nicht dazu gebracht, „Amerikaner pauschal zu hassen“. Offenbar hat Slahi versucht, die Gemütslage und Beweggründe seiner Peiniger zu verstehen. Und womöglich ist er dabei zu dem Ergebnis gelangt, dass die USA neben sich standen nach dem 11. September, schockiert, verunsichert, wütend.
Richard Patrick Zuley, verliert nicht einen seiner vielen Schimpfwörter über den Gefangenen Slahi. Er redet wohlwollend über den Mauretanier, sogar warmherzig, als wäre er dessen Vater. Er hält viel von dem klugen, willensstarken Charismatiker Slahi, dass er sagt: Sollte Slahi freikommen, wird man ihn in Mauretanien zum Präsidenten wählen. Er klingt, als würde auch er Slahi seine Stimme geben, wenn er denn in Mauretanien wählen dürfte.
(Quelle: Süddeutsche Zeitung, vom 15. Januar 2015)
„Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht was sie tun“. (Lk 23,34)
Liest man die Geschichte der Brüder und Said und Chérif Kouachi, die das Attentat in Paris verübt haben, dann kann man traurig werden: Said kommt 1980 und Chérif 1982 in Paris zur Welt. 1994 stirbt der Vater an Lungenkrebs. Die Mutter kränkelt, ist mit vier Kindern überfordert, sie stirbt ein Jahr später. Die Jungs sind nun Vollwaisen, kommen in ein Jugendheim in die Provinz. Lehrer erzählen über Chérif, er sei liebenswert, goldig, niedlich und auch immer sehr höflich. Er wird Klassensprecher und konnte mit jedem. Die Noten sind nicht sehr gut. Er hat nur Fußball im Kopf und spielte sehr gut, lässt sich zum Trainer ausbilden. Said, der Ältere, gibt sich als Ersatzvater, ist ernst, kontrolliert, verschlossen.
In Frankreich wächst die Feindseligkeit gegenüber den Millionen zugewanderten Franzosen. Rassismus flammt auf. Chérifs Traum von einer Fußballkariere platzt. Said beendet die Hotelfachschule. Sie gehen zurück nach Paris zu einem Onkel. Der wirft sie bald wieder raus. Die Brüder leben auf der Straße, während der eine schläft, wacht der andere. Der eine wird Pizza-Bote, der andere arbeitet schwarz. Sie ziehen durch Bars, rauchen Haschisch.
11. September 2001. George Bush ruft den Krieg gegen den Terror aus und kämpft in Afghanistan gegen al-Quaida; Frankreich macht mit.
Die Brüder finden Zugang zu der Addawa-Moschee. Ein junger Prediger radikalisiert vor allem Chérif. In dieser Zeit greift die USA den Irak an. Muslime empören sich weltweit über den Tod von Frauen und Kindern, lehnen eine von US-Panzern aufgezwungene Demokratie ab.
Chérif und der Prediger sehen sich Videos vom Leid der Iraker an. Der radikale Islam verspricht, was sie nicht haben: Einen Platz, Akzeptanz, Respekt. Chérif will im Irak kämpfen. Ein anderer Prediger versucht ihn zu bremsen – vergeblich. 2004 werden Folterfotos aus Abu Ghraib öffentlich, Belege amerikanischer Arroganz. US-Wärter demütigen und quälen irakische Gefangene.
2005 brennen in Frankreich die Vororte. Einwandererkinder laufen Sturm, nachdem zwei junge Muslime bei der Flucht vor Polizisten ums Leben kommen. Präsidentschaftskandidat Sarkozy will die Vorstädte mit dem „Hochdruckreiniger von Kärcher“ vor dem „Gesindel“, er meint die Jugendlichen, reinigen.
Vor der Ausreise über Syrien in den Irak lässt die Polizei die Gruppe um den radikalen Prediger hochgehen. Chérif kommt ins berüchtigte Pariser Gefängnis Fleury-Mérogis, gebaut für 2800 Insassen, überbelegt mit 4100 Personen, die beste Schule für Kriminalität.
Nach einem Jahr wird Chérif entlassen, lebt auf der Straße, schläft in Parks. Er lernt eine Frau kennen, heiratet, arbeitet im Supermarkt an der Fischtheke.
Chérif und Said sind in der Islamistenszene bekannt. 2011 reisen sie in den Jemen, lernen kämpfen. Auch Said heiratet nach der Rückkehr, bekommt einen Sohn.
Der Dschihad bleibt faszinierend, bis zum Attentat.
(Quelle: Süddeutsche Zeitung, 17. Januar 2015)
Das ist ein Schlüsselsatz in der Biografie: Der radikale Islam verspricht, was sie nicht haben: Einen Platz, Akzeptanz, Respekt. Das braucht der Mensch, das braucht die Seele, das schafft Frieden: ein Platz, Akzeptanz, Respekt.
Ich besuchte unangemeldet am vergangenen Sonntag die Moschee in Neckarsulm, weil mir danach war, und fragte: 'Wie geht’s jetzt nach den Anschlägen, in der angespannten Stimmungslage?' – ‚Keine Vorkommnisse'. Jugendliche aber sind nachts zur Bewachung da und die Polizei hat auch schon nachgefragt. Ich habe mit einem Moschee-Vertreter, Yilmaz Kocak, einen Termin für ein gemeinsames Paddeln ausgemacht. Ich hörte, dass der Imam bei einer Versammlung meinen Besuch anerkennend erwähnt hat.
Ich fragte auch in der Heilbronner Bilal-Moschee nach - mit einigen war ich im Sommer paddeln - und hörte Frustration heraus: Immer unter Rechtfertigungsdruck zu stehen und dass einem immer Schlimmes und Böses unterschwellig unterstellt wird. Die Moscheeleitung überlegt sich nun, wie sie stärker in der Öffentlichkeit wirken kann. ‚Darf ich euch mit Konfirmanden mal besuchen?‘ – ‚Ja, das bekommen wir hin. Jeden ersten Sonntag im Monat ist in der Moschee Familientag, kommt doch einmal‘. Ich las Jamal, mit dem ich telefonierte, aus dem Römerbrief vor: Einer komme dem anderen mit Ehererbietung zuvor. Übt Gastfreundschaft. Segnet und flucht nicht. Rächt euch nicht selbst. – ‚Ja, das ist es. Darum geht es‘. Jamal sagt, er sei traurig gewesen, als er bei uns vor der Paddeltour in der Kirche war und hörte, dass sonntags nur 20 Personen in den Gottesdienst kämen.
Die Mehrheitsgesellschaft und die Mehrheitsreligion hat eine enorme Verpflichtung gegenüber den Minderheiten. Einer komme dem anderen mit Ehrerbietung zuvor. Übt Gastfreundschaft. Segnet und flucht nicht. Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es wieder heraus. Jeder braucht einen Platz, Akzeptanz und Respekt! Das schafft Frieden.
Untersuchungen haben ergeben, dass entspannte Menschen eher Mitgefühl aufbringen als gestresste. Logisch. Wer gehetzt ist, kann und will nicht zuhören und hinhören und in der Not helfen, sondern will nur seine Sache erledigen, bis er erledigt und erschöpft ist.
Ist die weitverbreitete Religion hierzulande die Huldigung des Wirtschaftswachstums, permanent angetrieben, sich dies und das noch leisten und erarbeiten zu müssen; eine Weltanschauung, die Menschen zu Objekten degradiert, die man ausbeutet, wie man die Erde ausbeutet? Ist der Sinn des Lebens aber der Kontostand oder teilen und miteinander auskommen? Wollen wir wirklich das Leben, das wir leben, so leben oder werden wir nicht permanent verängstigt und manipuliert? Dass man uns aushorcht, das wissen wir, um uns noch gezielter zu lenken.
Eine Frau, die weit im Osten, in Asien aufgewachsen ist und andere Kulturen kennengelernt hat, leidet unter der Kälte der Beziehungen hier. Wir haben uns daran gewöhnt, kennen es nicht anders, nicht mehr besser.
Migranten und Flüchtlinge befreit uns! Öffnet wieder unsere Herzen und unser Mitgefühl! Zeigt uns, was wichtig ist im Leben! Holt uns aus der Selbstbezogenheit heraus!
Alles ist vergeben. – Nein.
Nicht alles ist gut, aber alles kann gut werden. Wie?
Wir müssen uns üben in Respekt, Achtung und Ehrfurcht, in dem, was eine Kultur zur Kultur macht.
Danke Gott für alle seine Gaben.
Achte das Leben in all seinen Formen, damit dein Leben Hilfe findet.
Achte die Alten. In ihnen achtest du Leben und Weisheit.
Achte die Frauen. In ihnen achtest du das Geschenk des Lebens und der Liebe.
Achte die Freundlichkeit. Freundlich bist du, wenn du deinen Besitz teilst.
Halte dein Wort und du wirst wahrhaftig sein.
Sei friedfertig. Durch Friedfertigkeit gelangst du zum Frieden mit dir.
Sei mutig. Mut lässt alle guten Kräfte wachsen.
Sei maßvoll. Sieh hin, hör zu und denke nach, dann wird alles, was du tust sinnvoll sein. (Ev. Gesangbuch Seite 1185)