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weit und breit

Trauern heißt lieben

„Trauern heißt lieben"- ein wohlklingender Satz.
Wer trauert, vermisst. Wer trauert, leidet. Wer trauert, ist verwundet. Wer um ein Kind trauert, dem ist für immer etwas aus dem Gemüt und aus der Seele gerissen. Wer das einzige Kind verloren hat, hat Zukunft verloren. Der rebellische Widerstand will anfangs nicht wahrhaben, was geschehen ist.

Trauern heißt dann, dem verstorbenen Kind doch noch und immer wieder einen Platz im Leben und im Herzen einzuräumen, es in Erinnerung zu halten. All die Aufmerksamkeit und die Gedanken und die Liebe richten sich auf das verstorbene Kind, auf die Kleidung, die es trug, die Sachen, die es in seinen Händen hielt.
All die Aufmerksamkeit und die Gedanken und die Liebe richten sich in den fernen und doch so nahen Himmel hinein.     

Die sehnsüchtige Trauer in diese andere Welt hinein, wo das Kind hoffentlich jetzt lebt, lässt das unmittelbare, alltägliche Leben bedeutungslos erscheinen. Die anderen um dich herum beachtest du viel, viel weniger. Sie fühlen sich vernachlässigt und minderwertiger als das verstorbene Kind.

Der Evangelist erzählt die Geschichte vom barmherzigen Vater. Der Vater vermisst sehnsüchtig seinen jüngeren Sohn, der sich mit dem Erbe auf und davon gemacht hat. Er hält oft Ausschau nach ihm und hofft, dass er eines Tages wiederkommen könnte. Als es dann soweit ist, lässt der Vater ein großes Fest ausrichten.
Der andere, der ältere Sohn ärgert sich. Er war immer in der Nähe des Vaters, hat mit ihm und für ihn gearbeitet und auch die Arbeit des gegangenen Bruders übernommen. Der ältere Sohn hat sich vielleicht auch das Jammern und Bangen des Vaters mit anhören müssen; gut möglich, dass er mit dem Vater darüber auch gesprochen, wenn nicht sogar gestritten hat. Er hält enttäuscht und zornig seinem Vater vor: „Siehe, so viele Jahre diene ich dir und habe dein Gebot nicht übertreten, und du hast mir nie einen Bock gegeben, dass ich mit meinen Freunden fröhlich gewesen wäre“.
Aber konnte der Vater anders fühlen? Gerechter?
Um die große Distanz zum gegangenen Sohn zu überwinden, brauchte der Vater viel Energie, musste mit seinen Gedanken und der Sehnsucht in der weiten Welt sein. Den älteren Sohn hat er ja immer gesehen und gehört, hat mit ihm gearbeitet und geredet. Schlimmes zu ertragen, fordert von uns mühsamen Widerstand und seelische Kraft. Die Freude über das alltäglich Gute hingegen nimmt man oft selbstverständlich hin. Trauern heißt lieben; lieben über Grenzen hinweg in ein Ungewisses hinein.

Trauern heißt lieben – der Satz kann aber auch gefährlich sein, wenn man ihn umstellt: Lieben heißt trauern.
Liebst du das verstorbene Kind, wenn du um es trauerst? Ist Trauer gelebte Liebe? Ist Trauer eine Art Liebesbeweis, den du dem verstorbenen Kind immer noch und immer wieder versichern musst? Weil du dich für seinen Tod schuldig fühlst? Weil du meinst, nicht genug aufgepasst zu haben? Weil du dir vorwirfst, die fürsorgliche Elternpflicht nicht erfüllt zu haben?  
Wenn lieben trauern heißen und bedeuten würde, wie sollte sich dann die Trauer wandeln, weniger elend werden dürfen? Wie solltest du dich irgendwann wieder an dem freuen dürfen, was das Leben dir bietet?
Es müsste dir wie Liebesentzug für das vermisste Kind vorkommen, wenn du allmählich die Menschen unmittelbar um dich herum wieder mehr beachtest, mit ihnen scherzt, sie wieder mehr lieb gewinnst.
Würde der Satz gelten‚ 'das verstorbene Kind zu lieben, heißt um das verstorbene Kind elend zu trauern‘, dann wäre immerwährendes Leiden sollen die Folge.

Wenn du dich eines Tages der Trauer weniger hingibst - würdest du deiner Seele Schaden zufügen? Oder sie eher wieder erfreuen? Denn die Seele lebt ja davon, woran sie sich freut. Wenn du dem Kind im Gespräch, im Gebet, sagen kannst: ‚Sieh her, das habe ich heute Schönes erlebt! Das habe ich geschafft, das hat mir heute gefallen und gut getan‘, ist das nicht schöner als zu fragen und zu klagen: ‚Warum bist du gegangen? Sieh meine Tränen und meine Trauer.‘?

In der Trauer lieben. Ja. Immer noch das verlorene Kind liebhaben.
In der Trauer lieben. Wenn dann die Zeit gekommen ist, auch wieder die zu mögen, die mit dir Tag für Tag liebevoll leben und weiterleben, die für dich da sind und die, für die du da bist - immer noch oder ganz neu.
In der Trauer lieben. Immer wieder versuchen, das Leben zu lieben, das doch nicht so alltäglich und gewöhnlich und selbstverständlich ist. Zu viel verlangt?

(Predigt  im Gottesdienst für verwaiste Eltern am Sonntag, 11. Dezember 2016 in der Ev. Stadtkirche Neckarsulm, Pfr. Jürgen Stauffert)